Frei sein
Alli Neumann im Tollhaus

© Lilly Timme
Alli Neumann tanzt. Im violett-roten Licht der kleinen Bühne kickt sie in die Luft, geht in die Hocke, springt wieder auf. Sie breitet die Arme aus wie ein Vogel, der zum Abflug ansetzt und irgendwie scheint es in diesem Moment völlig logisch, dass sie wirklich gleich abheben und davonschweben könnte.
Zwei Stunden früher: Der Innenhof des Tollhaus in der Karlsruher Oststadt ist noch fast menschenleer. Ein paar Tontechniker verlegen Kabel. Alli ist gerade mit dem Soundcheck fertig und nimmt schwungvoll auf einem wackeligen Gartenstuhl Platz. Sie deutet auf das Aufnahmegerät auf dem Tisch vor ihr: „Sobald das läuft, erzähl ich nur noch Mist.“ Dann lacht sie.
In ihren Songtexten verwendet die 27-Jährige kaum Metaphern. Sie textet sehr nah an ihrer Sprechsprache, vollkommen ohne Kitsch und Phrasen. Genauso offen und direkt spricht sie auch. Der Filter, der die meisten Menschen überlegen lässt, was sie sagen oder tun können, ohne „komisch“ zu wirken, ist bei ihr scheinbar nicht vorhanden und sie hat auch eine Vermutung, woran das liegt:
Während Alli Neumann sich nach dem Gespräch in den Backstage Bereich zurückzieht, treffen draußen die ersten Konzertgänger:innen ein. Der Innenhof des Tollhaus ist vollgestellt mit Bierbänken und Tischen. Dahinter ist auf ein paar Quadratmetern Sand aufgeschüttet. Dort entspannen einige Besucher:innen auf Liegestühlen in der Abendsonne. Aus einem umfunktionierten Container heraus werden Getränke und Essen verkauft.
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Hier können sich die Konzertbesucher:innen stärken
Mit fortschreitender Zeit erheben sich die Konzertbesucher:innen von ihren Bierbänken und schlendern in Richtung eines zweiten mit glänzendem roten Stoff ausgekleideten Containers, der als Bühne dient. Das Publikum, das sich dort versammelt, ist gemischt zusammengesetzt: Neben überwiegend weiblichen Besucher:innen zwischen 20 und 30, sind auch viele Menschen mittleren Alters gekommen. Insgesamt wäre sicher noch Platz für mehr Leute da, aber die Menge füllt den Bereich vor der Bühne gut aus.
Als Alli hinter ihrer Band die behelfsmäßigen Holzstufen zur Container-Bühne hinaufsteigt, schreit und klatscht das Publikum. Währenddessen beginnt die Band schon, die ersten Töne ihres Hits „Madonna Whore Komplex“ zu spielen und Alli setzt mit ihrer rauchigen und zugleich jugendlichen Stimme ein. Direkt beim ersten Song so richtig mitzugehen, ist dem Karlsruher Publikum aber etwas zu heikel und so wiegen sich die meisten Leute nur lächelnd im Takt.
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Das Karlsruher Publikum
Beim zweiten Song des Abends – „bike boy“ – taut das Publikum langsam auf. Einige junge Frauen fangen an, vor der Bühne zu tanzen, was nach und nach immer mehr Leute ermutigt, mitzumachen. Allerdings führt die Entscheidung der Band, gleich zwei der größten Hits am Anfang zu spielen, dazu, dass sich danach ein leichter Knick in der Spannungskurve abzeichnet. Nach „Bike Boy“ folgen einige Lieder, die zwar schön, aber weniger bekannt sind. Ein Lied, das jede:r kennt, hätte zwischendurch die Stimmung noch weiter angeheizt.
Trotzdem hält Alli Neumann einen guten Kontakt zu ihrem Publikum und führt während ihrer Moderationen sogar Gespräche von der Bühne aus. Ein junger Mann hält ein Pappschild mit der Aufschrift „RIP Führerschein“ in die Höhe, weil Alli am Tag zuvor auf Instagram öffentlich gemacht hat, dass ihr in einer Polizeikontrolle der Führerschein abgenommen wurde. Ihm ruft sie zu „Du bist mein Lieblingsfan des Jahres!“ und schiebt noch schnell nach „ihr anderen natürlich auch alle!“
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Das Schild hat sich gelohnt: Diese beiden sind Allis neue "Lieblingsfans"
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Vier ausgezeichnete Musiker:innen begleiten Alli Neumann auf ihrer Tour
Die Sängerin genießt den kleinen Rahmen im Tollhaus offensichtlich. Morgen wird sie unter vollkommen anderen Bedingungen spielen: als Vorband von Coldplay bei einem Stadion-Konzert in Frankfurt. „Ich mach mir heute nochmal einen schönen Abend, bevor ich morgen die Chance habe, meine Karriere vor 80.000 Leuten zu zerstören.“, erklärt sie dem Publikum mit einem selbstironischen Grinsen.
Gegen Ende des Konzerts sind die Leute richtig aufgetaut, tanzen und klatschen bei jedem Song mit. Die Performance von Neumanns Live-Band ist hervorragend und sie lässt den einzelnen Instrumentalist:innen Zeit für ihre Soli. Sie selbst ist, was Bühnenperformance angeht, wirklich ein Ausnahmetalent. Scheinbar hat sie überhaupt keine Angst sich zu blamieren, wenn sie völlig gelöst über die Bühne tanzt und beim Singen Grimassen zieht.
Von den Vorschriften, was als „normal“ gilt und was nicht, muss sich Alli Neumann nicht lösen – weil sie diese Vorschriften niemals verinnerlicht hat. Das geht den meisten Leuten im Publikum nicht so. Aber bei diesem Konzert gelingt es der Sängerin, einen Raum zu schaffen, in dem ihre Zuhörer:innen, wenn auch vielleicht nur für ein paar Stunden, der Normalität entkommen können.
Bevor Alli und ihre Band den letzten Song des Abends – „Frei“ – spielen, formt sie mit den Händen einen Trichter um ihren Mund und brüllt in die Menge: „Fühlt ihr euch frei?“ „Jaaa“ brüllt die Menge zurück.



